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Titel
Alltag in der Fremde. Hannoversche Soldaten im Dienst der British East India Company 1782–1791


Autor(en)
Petzold, Sara
Reihe
Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit 98
Erschienen
Hamburg 2019: Verlag Dr. Kovac
Anzahl Seiten
366 S.
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Mann, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Gut bekannt und beforscht ist die Anwerbung und Entsendung von etwa 30.000 deutschen Soldaten nach Nordamerika, um sie aufseiten der englischen Krone einzusetzen gegen die rebellischen Kolonisten in deren Unabhängigkeitskrieg (1775–1783). Kaum bekannt ist hingegen, dass zwischen 1782 und 1791 fast 3.000 Soldaten auf Geheiß des englischen Königs und hannoverschen Kurfürsten Georg III. in Norddeutschland angeworben und nach Südindien verschifft wurden, um dort die britischen Truppen in ihrem Kampf gegen den Sultan von Maisur zu unterstützen. Während der transatlantische Soldatentransport in der deutschen, amerikanischen und britischen Historiografie einen bis in die Gegenwart deutlich zu vernehmenden Niederschlag gefunden hat, trifft dies für die hannoverschen Truppen in Madras nur bedingt zu.

Recht zeitnah verfasste der hannoversche Offizier und Diplomat Ernst von dem Knesebeck 1845 eine Darstellung der hannoverischen Truppenkontingente, die der englische Staat mietete, um sie in Gibraltar, Minorca und Indien einzusetzen. Er ist auch der einzige, der diese Truppenverlegung vor dem Hintergrund des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges in einen globalhistorischen (imperial-britischen) Kontext stellt.1 Ende des 19. Jahrhunderts legte der Historiker Viktor von Diebitsch eine Darstellung ausschließlich der kurhannoverischen Truppen in Indien vor, die, wie Diebitschs zahlreiche Darstellungen zur Armee des Kurfürstentums und späteren Königreichs Hannover (bis 1866), der Heroisierung des hannoverischen Militärs und der „landesväterlichen Gesinnung“ König-Kurfürst Georg III. diente.2

In einer neueren Untersuchung widmete sich der Historiker Chen Tzoref-Ashkenazi umfassend den deutschen Truppen in Südindien. Allerdings legte er das Hauptaugenmerk auf die Wahrnehmung der fremden Kultur durch die hannoverischen Offiziere und ihren Einfluss auf das Indienbild in Deutschland, nachdem sie hier ganz gezielt ihre Memoiren und Reisetagebücher publiziert hatten.3 Seit kurzem liegt ein Sammelband vor, der in einer gelungenen Kombination von Einführungstext, Quellentexten und korrespondierenden Erläuterungstexten den Wert deutschsprachiger historischer Dokumente zur Historiografie Südasiens am Beispiel der kurhannoverischen Truppenkontingente herausstreicht und auf diese Art und Weise das Ausmaß globaler Verflechtungsgeschichte im 18. Jahrhundert dokumentiert.4

In diese Forschungslandschaft reiht sich die Dissertation von Sara Petzold ein, wobei der genannte Sammelband nach dem Erscheinen ihrer Studie erschien. Explizit möchte sich die Autorin der Alltagsgeschichte der kurhannoverschen Truppen in Südindien widmen. Hierzu hat sie systematisch die Quellenbestände im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv (NHStA) in Hannover durchgesehen. Methodisch macht sich Sara Petzold die Erkenntnisse der Mikrohistorie zunutze und will mit deren Hilfe untersuchen, „auf welche Weise den logistischen und sozialen Herausforderungen vor Ort begegnet wurde“(S. 27). Dem Anspruch nach geht es folglich um eine Alltagsgeschichte und die Lebenswelten der kurhannoverischen Truppen in Südindien.

Für die Untersuchung hat Sara Petzold ihre Dissertation in neun Kapitel eingeteilt. Nach der Einleitung, die sich den historischen Rahmenbedingungen sowie Quellenlage und Forschungsstand widmet, behandelt das erste Kapitel die Überfahrt von Stade nach Madras, gefolgt von Kapiteln über Ökonomie in der Fremde: 1. Teil: Transport, Logistik und Verwaltung und 2. Teil: Aufenthalt der Soldaten in der Garnison und auf dem Marsch. Dem schließt sich Alltag in der Fremde an: 1. Teil: Dienst in der Garnison, 2. Teil: Schlachterfahrung, 3. Teil: Disziplin im Dschungel und 4. Teil: Seelenheil im Dschungel. Das vorletzte Kapitel behandelt die Rückkehr der Truppen nach Hannover und das Schicksal einzelner Soldaten, das letzte Kapitel bietet eine knappe Zusammenfassung der Forschungsergebnisse sowie einen kurzen Ausblick auf künftige Forschungen.

Im Großen und Ganzen gelingt es der Autorin, ein buntes Bild der hannoverschen Truppen von ihrer Einschiffung nach Indien und ihrer Rückkehr und „Resozialisierung“ in Hannover zu entwerfen. So beispielsweise bei der „Meuterei auf der Polly“, einem Truppentransporter, der aufgrund widriger Wetterverhältnisse nach Stade zurückkehren und dort bei Eiseskälte auf die nächste Möglichkeit zum Auslaufen warten musste. Kälte und Hunger veranlassten die Soldaten zur Meuterei, wobei, das hätte herausgestellt werden können, es bei dem kollektiven Protest darum ging, die den Soldaten vertraglich zugesagten Lebens- und Ernährungskonditionen einzuhalten; Desertion war nämlich keine Option. Überfahrt und Ankunft in Madras war von Langeweile einerseits und allgegenwärtigem Tod andererseits geprägt. Überbelegung auf den Transportschiffen – einer Person standen kaum 2qm zur Verfügung – führten zum Ausbruch von Krankheiten und resultierten in hoher Mortalität. Das traf auch für den Rücktransport zu, als wiederum Sterblichkeitsziffern von 20 Prozent und mehr zu verzeichnen waren. Hier wäre ein Vergleich mit den Mortalitätsraten auf den Sklavenschiffen der berüchtigten „Middle Passage“ angebracht gewesen, die bei ähnlicher Belegung ähnliche Todesraten aufwiesen.

Sehr plastisch werden die Strapazen des Marsches im Hinterland von Madras geschildert ebenso wie die Erfahrungen des Kriegsalltags, die die Soldaten bei ihrem einzig nennenswerten Einsatz in der Schlacht von Cuddalore 1783 machten. Der Garnisonsdienst, dem die Soldaten fast die gesamten zehn Jahre ihres Aufenthaltes in Madras nachgingen, war von extremer Langeweile gekennzeichnet und wurde seitens der Mannschaften mit Glücksspiel verbracht, während die Offiziere entweder lasen, Flöte oder Karten spielten, oder bei Pferderennen wetteten. Besuche bei Prostituierten führten bei den Mannschaften zu Geschlechtskrankheiten, die die Disziplin und damit die Einsatzfähigkeit der Truppen gefährdeten. Statt jedoch konsequent die Perspektive der einfachen Soldaten einzunehmen, erläutert Sara Petzold in extenso die moralischen und disziplinarischen Bedenken, die die Offiziere an den Tag legten. Dies ist sicherlich der Quellenlage geschuldet, denn die gemeinen Soldaten haben keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Will man jedoch Alltagsgeschichte schreiben, hätten die Quellen gegen den Strich gelesen werden müssen. So aber folgt die Autorin dem diskursiven Narrativ, das bereits im 18. Jahrhundert durch die moralisierenden Offiziere angelegt wurde.

Dies gilt auch für den Abschnitt über den Alkoholismus. Die Autorin erweckt den Eindruck, als ob fast sämtliche Soldaten Alkoholiker gewesen seien, was sicherlich nicht zutrifft. Dass Alkoholkonsum im Militär eine große Rolle spielte, wie überhaupt unter Männern, zeigt die Autorin gut auf. Daraus zu schließen, die hannoverschen Soldaten hätten sämtlich ein Alkoholproblem gehabt, geht freilich zu weit – zumal die Quellen diesen Befund nicht hergeben. Dies gilt auch für das Glücksspiel – nicht jedes Würfel- oder Kartenspiel ist schon Glücksspiel, dem man wegen schwachen Charakters verfällt. Auffällig ist das hohe Maß an Spekulation, das Sara Petzold immer wieder bei ihren seitenlangen Erläuterungen zeigt, um dann mit der Feststellung zu schließen, die Quellen lassen konkrete Schlüsse nicht zu (vgl. zum Beispiel S. 151).

Wie im Abschnitt über Alkohol, Glücksspiel und Prostitution gewinnt man auch im Abschnitt über Depression und Desertion den Eindruck, die Truppe sei ein moralisch und charakterlich verkommener Haufen gewesen. Statt den Lebenswelten der gemeinen Soldaten nachzugehen, verliert sich die Autorin in breiten theoretischen Erläuterungen, die bei den hannoverschen Soldaten in dieser Form nicht nachzuvollziehen sind. Zu diesen bisweilen abschweifenden Erörterungen gesellen sich häufige Wiederholungen von Sachverhalten und selbst Quellenzitaten, die den Lesefluss einschränken. Auch die häufigen Angaben ein und derselben Literaturangabe bei den Wiederholungen, oft ohne Seitenangaben, tragen nicht zur Verständlichkeit des Textes bei (vgl. zum Beispiel S. 150, Anm. 450, davor wird das Werk viermal ohne Seitenangaben genannt).

Schließlich fällt eine ganze Reihe von formalen Mängeln auf. Da wäre zunächst die „British East India Company“, in deren Diensten die hannoverschen Truppen standen. Es gab eine solche nicht, denn deren offizielle Bezeichnung lautete ab 1709 „The United Company of Merchants Trading to the East Indies“. Bereits in der zeitgenössischen Nomenklatur sowie nachfolgend in der Forschungsliteratur wird generell das Kürzel EIC (East India Company) verwendet. Abgesehen davon wirkt die durchgängige Bezeichnung „Ostindien“ – in Abgrenzung zu dem karibischen Westindien – extrem anachronistisch. Indien oder Südasien bzw. Coromandel-Küste und Karnataka wären hier die angemessenen geografischen Termini. Und das englische „barracks“ ist im Deutschen nicht mit „Barracken“ zu übersetzen, sondern mit Kasernen.

Recht befremdlich wirkt die Zitierweise aus den Quellenbeständen des NHStA, wenn nur der Bestand angegeben wird, im Literaturverzeichnis dann die entsprechenden Bestandsteile, jedoch keinerlei Autor, Datum und Art des Schriftstücks genannt wird, geschweige denn eine Seiten- oder Foliozahl. Eine Zuordnung und damit der wissenschaftliche Beleg ist damit nicht möglich. Teilweise sind Quellen gar nicht nachvollziehbar, so der Eintrag von Gerhard von Scharnhorst im Literaturverzeichnis (S. 339), der nicht im Text auftaucht, und umgekehrt die Erwähnung eines Briefes von Scharnhorst (S. 37, Anm. 69), der nicht zuzuordnen ist. Der mehrere hundert Folianten umfassende Bestand der East India Company General Correspondence, Correspondence with India, 1703–1858, British Library IOR/E/4 wird als gesamter Bestand zitiert (S. 90, Anm. 239), aber im Literaturverzeichnis nicht erwähnt, was nachdenklich stimmen mag.

Abgesehen von diesen Mängeln hat Sara Petzold das Potenzial, das der Stand der Forschung einerseits und die Fülle des Quellenmaterials andererseits offerieren, bei weitem nicht ausgeschöpft. Der soldatische Alltag in der Fremde hätte mit weniger spekulativer Erläuterung und unter Zuhilfenahme publizierter englischer Berichte und Quelleneditionen viel facettenreicher und vor allem lebensnaher geschildert werden können.

Anmerkungen:
1 Ernst von dem Knesebeck, Geschichte der Churhannoverschen Truppen in Gibraltar, Minorca und Ostindien, Hannover 1845.
2 Viktor von Diebitsch, Die kurhannoverschen Truppen in Ostindien 1782–1792, in: Hannoversche Geschichtsblätter 1 (1898), S. 67–128.
3 Chen Tzoref-Ashkenazi, German Soldiers in Colonial India, London 2014.
4 Ravi Ahuja / Martin Christoph-Füchsle (Hrsg.), A Great War in South India. German Accounts of the Anglo-Mysore Wars, 1766–1799, Berlin 2020.

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